Zeitzeugnisse

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Titel:

Lied Nummer eins

Thema: Kultur

Ort: Appenzell Ausserrhoden    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1825

Masse: 20 x 24 cm

Standort: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, App b 953:1–4

Urheber/-in: Johann Heinrich Tobler, Caroline Rudolphi

Beschreibung:

«Komp. von J.H. Tobler» steht oben rechts. Der Name der Dichterin Caroline Rudolphi fehlt. Das Lied Nummer eins der ersten Liedersammlung des Appenzellischen Sängervereins wurde bis 1938 ausschliesslich unter dem Namen des Komponisten überliefert. Bei Recherchen zum 100. Todestag Toblers entdeckte ein Musikwissenschafter die Herkunft des Textes aus der Feder der norddeutschen Mädchenerzieherin.
 

Geschichte:

Während Jahrzehnten haben Hunderte Männerkehlen unter freiem Himmel vier Strophen des Gedichts «An Gott» in der Vertonung von Johann Heinrich Tobler (1777–1838) gesungen. Ob ihnen bewusst war, dass sie die Worte einer norddeutschen Pionierin der Mädchenbildung wiedergaben? Das Gedicht, das die Hamburgerin Caroline Rudolphi (1753–1811) in einem Band voller empfindsamer Verse veröffentlicht hatte, war vor der Tobler’schen Liedbearbeitung schon zweimal vertont worden. Tobler wählte aus den neun Strophen die besten vier und schuf damit das nachmalige Landsgemeindelied.

Im Herbst 2012 sangen Mitglieder des Gemischten Chors Wald im Vorarlberg frei aus ihrem Repertoire. Ob der Chor auch ein Lied in Hochdeutsch singen könne, wollte ein Zuhörer wissen. Die Sängerinnen und Sänger schwiegen. Es kam ihnen kein deutsches Lied in den Sinn, das sie vierstimmig und ohne Noten singen konnten – mit einer Ausnahme: dem Landsgemeindelied. Sie entschieden sich dann aber, das Lied nicht anzustimmen. Die Situation war nicht passend.

Da steckt mehr als ein kultureller Code dahinter: Es sind Erinnerungen, individuelle Geschichten und Erfahrungen, die mit der «Ode an Gott» verbunden sind. Und es ist die Gewissheit, dass mit der Abschaffung der Landsgemeinde auch der passende Ort zum gemeinsamen Singen dieses Liedes verschwunden ist. Wie aber kam es dazu, dass das Lied zum Appenzeller Landsgemeindelied wurde? – Die Geschichte beginnt mit engagierten jungen Männern, die sich der Volksaufklärung verschrieben hatten. Auf Anregung des Wäldler Pfarrers und Chorleiters Samuel Weishaupt (1794–1874) wurde 1824 der Appenzellische Sängerverein gegründet. Weishaupts Vorbild war der Zürcher Hans Georg Nägeli (1773–1836), der Schöpfer des vierstimmigen Männergesangs und «Vater des Schweizerischen Volksgesangs». Er hatte sich zum Ziel gesetzt, «das ganze Volk zu einem singenden zu machen und durch das Mittel des Gesanges die Erziehung und Bildung der Massen zu fördern». Unter Weishaupts Leitung brachte der Sängerverein zustande, dass sich 1825 Volksmassen zur Sänger- und Schlachtfeier auf der Vögelinsegg und ein Jahr später auf dem Stoss versammelten. Johann Heinrich Tobler war beauftragt worden, eine Sammlung von Liedern für den Appenzellischen Sängerverein herauszugeben. In dieser Sammlung ist die «Ode an Gott» das Lied Nummer eins.

Die Landsgemeinde als geeigneter Ort für die Verwirklichung des Nägeli’schen Ideals hatte Weishaupt schon 1823 ins Spiel gebracht. 1838 rief «ein Freund des Gesangs» via Appenzeller Zeitung dazu auf, sich eine Viertelstunde vor Beginn der Landsgemeinde zu besammeln, um gemeinsam «Lieblingslieder» zu singen, solche, die man in der Zwischenzeit auswendig könne. Unter den vorgeschlagenen Liedern befanden sich «Wo Kraft und Muth etc.», «Alles Leben etc.» oder «Was ziehen so freudig etc.». 1877 wurde «Alles Leben strömt aus dir» zum einzigen Landsgemeindelied, ohne dass es je ins offizielle Zeremoniell aufgenommen worden wäre. 1896 wurde der Liedtext erstmals auf der Rückseite des Landsgemeindeedikts abgedruckt; zwischen 1905 und 1997 mit Noten. In der vierstimmigen Fassung des Kantonaldirigenten Albrecht Tunger ist das Lied in Kirchengesangbüchern abgedruckt, während in einer älteren dreistimmigen Männerchorversion häufig die dritte Strophe weggelassen wird. In Appenzell Innerrhoden wird die «Ode an Gott» im Gottesdienst gesungen, der jeweils vor Beginn der Landsgemeinde in der Pfarrkirche St. Mauritius in Appenzell stattfindet.

Autorin: Heidi Eisenhut, Trogen

Literatur:

Quellen:
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 134 Musica div. 2° Religiöse Oden und Lieder der besten deutschen Dichter und Dichterinnen. Mit Melodien zum Singen beym Claviere. Hrsg. von Johann Adam Hiller. Hamburg 1790 [Vertonung Adam Hiller].

KBAR, App b 953:1–4 Tobler, Johann Heinrich: I. Ode an Gott. In: Lieder für den appenzellischen Sängerverein. Erste Sammlung. St. Gallen 1825, S. 2.

KBAR, App b 2401 Tobler Heinrich: Alles Leben strömt aus dir: Lieder für Männerchor, Frauenchor und Gemischten Chor. Hrsg. von Albrecht Tunger. Trogen 1988.

KBSG, VQA 2883 Gedichte von Karoline Christiane Louise Rudolphi. Sammlung 2: Nebst einigen Melodien. Hrsg. von Joachim Heinrich Campe, Braunschweig 1787 [Vertonung Johann Georg Witthauer].

Literatur:
175 Jahre Appenzellischer Kantonalsängerverband. Festschrift. Herisau 1999.

Schläpfer, Walter: Appenzeller Geschichte. Bd. 2: Appenzell Ausserrhoden von 1597 bis zur Gegenwart. Herisau, Appenzell 1972.

Eisenhut, Heidi: Caroline Rudolphi und der kulturgeschichtliche Ort des Landsgemeindeliedes. In: Appenzeller Kalender 2009 (2008), S. 57–65 [mit weiterführender Literatur].

Perrey, Gudrun: Das Leben der Caroline Rudolphi (1753–1811). Erzieherin, Schriftstellerin, Zeitgenossin. Heidelberg 2010.

Rüsch, Walter: Alles Leben strömt aus dir. Wer ist der Dichter? – Karoline Rudolphi. In: NZZ 159/1090 (19.06.1938), Bl. 3.

Rüsch, Walter: Karoline Rudolphi. Die Dichterin des Appenzeller Landsgemeindeliedes. In: Nationale Hefte 10 (1943/1), S. 30–33.

Schläpfer, Walter: Die Landsgemeinde von Appenzell Ausserrhoden. 3. Aufl. Herisau 1991 (Das Land Appenzell, H. 3).

Tunger, Albrecht: Johann Heinrich Tobler. Chorgesang als Volkskunst. Herisau 1989.

 

Tags:

Appenzell Ausserrhoden, Landsgemeinde, Musik, Lied, Notenblatt, Gesang

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