Zeitzeugnisse

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Titel:

Eine Bahnreise als Wallfahrt

Thema: Land

Ort: Speicher    (Karte anzeigen)

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Datum: --.--.1903

Masse: 99.5 x 97 cm

Standort: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, KB-014922

Urheber/-in: Trogenerbahn

Beschreibung:

Frühes Werbeplakat im Auftrag der 1903 eröffneten, vollständig elektrifizierten Trogenerbahn. Der Betrachter steht auf der Vögelinsegg neben dem ebenfalls 1903 errichteten, heute noch dort befindlichen Schlachtdenkmal und blickt in Nordrichtung auf den Bodensee und auf das tiefer liegende Bahntrassee.
 

Geschichte:

Das farbintensive, nicht exakt datierbare Plakat eines unbekannten Grafikers im Jugendstil fällt auf. Die Jugendstilelemente verweisen auf die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Als Werbeplakat für eine neueröffnete Bahnlinie ist es völlig untypisch, denn im Gegensatz zu anderen Bahnplakaten zeigt es nicht die Vorzüge des damaligen modernsten und bequemsten Verkehrsmittels, der elektrischen Bahn, wie etwa Werbeplakate der Rorschach-Heiden-Bahn oder der Rigibahnen. Dominierend im Blickfeld sind das Denkmal und der weite farbige Horizont über einer fast unberührten magischen Landschaft. Im Vordergrund sichtbar ist die typische appenzellische Streusiedlung; das Bodenseeufer scheint aber unbesiedelt zu sein. Imaginär wirkt der gerötete Himmel: ein Sonnenaufgang oder -untergang ausgerechnet auf der Nordseite! Das Plakat ist somit «ein Requisit im Vorfeld der ‹grossen Sehnsucht›, des Drangs nach der Ferne». Es zeigt eine Reise durch eine Traumlandschaft, die eher der nordischen Tundra als dem Bodenseegebiet gleicht.

Ganz im Kontrast zur farbigen Landschaft steht gross im Blickfeld, als schwarze Silhouette im Gegenlicht, das 1903 errichtete Denkmal zur 500-Jahrfeier der Schlacht bei Vögelinsegg, einem markanten Ereignis der Appenzeller Freiheitskriege. Vielleicht sollte die Reise mit der Trogenerbahn den Besuch dieser ehrwürdigen Gedenkstätte zum Ziele haben, war doch eine Haltestelle in nächster Nähe eingerichtet worden. Solche Denkmäler wurden zwischen 1870 und dem 1. Weltkrieg anlässlich der Jahrhundertfeiern grosser Schlachten der Schweizer Geschichte errichtet (Murten 1876, Sempach 1886, Stoss 1905 u.a.). Sie sollten an eine ruhmreiche Vergangenheit erinnern, so auch dieses hier: «‹Mit Blut und Opfer› sei damals die Appenzeller Freiheit gekittet worden.» Den Wallfahrer sollte eine möglichst realistische Darstellung beeindrucken: «Auf einem Sockel die Figur eines wehrhaften Appenzeller Sennen mit dem Morgenstern bewaffnet und auf seinen einfachen Schild sich stützend […]. Der Typ des Kriegers soll ächter Appenzeller, die Kleidung der damaligen Zeit (1403) möglichst getreu nachgebildet sein.» Von der Bahnhaltestelle führt ein Fussweg hinauf zum erhöht stehenden Monument, den der andächtige Denkmal-Pilger meditierend zurücklegen konnte. Somit ist die per Bahn bequem erreichbare Appenzeller Hügellandschaft um Speicher und Trogen gar nicht das Reiseziel, sondern – wenn auch unausgesprochen – die nationale Gedenkstätte. Die Landschaft selber bildet nur die Kulisse dazu. Der rote Himmel soll also keinen Sonnenuntergang oder -aufgang zeigen; er wird vielmehr zum Symbol für «Blut und Opfer» der gefallenen Helden.

Damit erweist sich das vorliegende Plakat weniger als Tourismuswerbung für eine bestimmte Feriengegend, denn als Zeitzeugnis für den aufkommenden Geschichtsnationalismus der Schweiz. Diesen im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, war die Funktion der neuerrichteten Denkmäler. Die Schweiz als Hüterin der Alpenpässe sollte als von den Grossmächten respektierte neutrale Nation mit besonderer Vergangenheit dastehen. Auch wenn jetzt «die kriegerischen Tugenden ins Zivile transferiert worden [waren], mit Parolen wie: Das Vaterland müsse jetzt nicht mehr bei Sempach oder am Stoss verteidigt werden, sondern mit den Waffen der Industrie auf dem Weltmarkt oder: statt mit Morgenstern und Hellebarde mit Pickel und Schaufel beim Eisenbahnbau.»

Autor: Hans Georg Kasper, Trogen

Literatur:

Fuchs, Thomas: Das Tourismusplakat im Appenzellerland. In: Appenzeller Kalender 273/1994 (1993), S. 75–83.

KBAR, KB-014922 Plakat «Elektrische Bahn Trogen», um 1903.

Kreis, Georg: Jubiläen und Schlachtgedenken. Zivile Überlegungen zur «militärischen» Erinnerungskultur in der Schweiz. In: Appenzeller Jahrbücher 132/2004 (2005), S. 13–27.

Rotzler, Willy: Touristikplakate der Schweiz 1880–1940. Aarau, Stuttgart 1980.

Ruffieux, Roland: Die Schweiz des Freisinns (1848–1914). In: Im Hof, Ulrich et al.: Geschichte der Schweiz und der Schweizer. Bd. 3. Basel 2006 [4. Auflage], S. 9–100.

Witschi, Peter: Appenzellische Denkmal-Euphorie und Zentenarfeiern. Eine kommentierte Rückschau. In: AJb 132/2004 (2005), S. 88–97.

 

Tags:

Trogen, Speicher, Tourismus, Bahn, Plakat, Denkmal, Nationalismus

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